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Can Dündar, "Freikörperkultur, Merkel und ich"

Der Sommer in Berlin war so lang, so heiß und so sonnig, dass er es sogar auf die Titelseite des Spiegel gebracht hat. Für Menschen wie mich, die aus dem mediterranen Klima kommen, war er so schön, dass wir sogar den trostlosen Sommer des vergangenen Jahres vergessen konnten.
Ich habe den gesamten Sommer in Berlin verbracht. Ich genoss die ruhigeren Straßen, die schattigen Parks und die Sonne, die die umliegenden Seen wärmte. Die Seen wurden zu meinem Meer. Ich tauchte in süßem Wasser.
Als ich einmal am Strand eines Sees entlangspazierte, bemerkte ich plötzlich, dass die Badegäste splitterfasernackt waren. Zwischen ihnen und der Sonne war nicht ein Fetzen Stoff. Die Sonne schien nichts dagegen zu haben, genauso wenig die Haut oder der Stoff …
Und ich?
Äh … Ja …
Um ehrlich zu sein, ich komme aus einem Land, in dem der Trend mehr zur Verhüllung des Körpers geht. Ich dachte sofort, ich darf sie nicht ansehen. Ich darf sie nicht stören. Ich muss mich entweder ausziehen und mich zu ihnen gesellen oder ich muss hier weg! Aber ich habe mich schnell gefangen. Die Nackten am See waren so ungezwungen und mit sich zufrieden, dass sie meine anfängliche Aufregung gar nicht bemerkten. Als wären nicht sie, sondern ich nackt.
Während ich mit gesenktem Blick an den Adams und Evas, deren durchschnittliches Lebensalter recht hoch war, vorbeiging, bewunderte ich gleichzeitig ihr Selbstvertrauen und ihren Mut, jedes Fleckchen ihres Körpers, das sonst das Licht der Welt nicht erblickt, der Sonne preiszugeben. Die Badekleidung, die meist unsere Hüften und Brüste mit dicken Balken verziert, konnte ihnen nichts anhaben. Sie genossen die direkte Berührung mit der Erde, der Sonne und dem Wasser. 
So wie sie keine Badeanzüge anzogen, zogen sie auch keine neugierigen Blicke auf sich. Und auch keine Verbote …
Als Teil einer Gesellschaft, die die Nacktheit genauso verbietet und missbilligt, wie abweichende Meinungen, war ich für eine Weile niedergeschlagen. Nudismus ist das Aufbegehren und die Freiheitsbekundung des Körpers.
Ich war neidisch.

                         ***

Ich erinnerte mich an Angela Merkel und meine Vernehmung durch den Staatsanwalt. Sie werden sich fragen, echt jetzt! Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Als ich am 26. November 2016 in Istanbul in das Büro des General­staatsanwalts zum Verhör trat, sprachen wir plötzlich über Frau Merkel und ihre Nacktheit. Eigentlich sagte ich zu einem ganz anderen Thema aus. Der türkische Staat war beim Waffenschmuggel nach Syrien auf frischer Tat ertappt worden und ich wurde beschuldigt, die entsprechenden Beweise in der Zeitung, die ich leitete, veröffentlicht zu haben. Der Staatsanwalt hatte mich in den bequemen Sessel seines großen und komfortablen Büros eingeladen und fragte mich, warum ich unseren Staat splitternackt zeigte. Er stellte mir eine Fangfrage: »Denken Sie, dass man über alles berichten darf?« Auf meinen fragenden Blick antwortete er mit folgendem Beispiel: »Wie Sie wissen, wurde vor kurzem ein Nacktfoto aus der Jugend der deutschen Kanzlerin öffentlich.« Ich wusste es. Ein schwarz-weißes, natürliches und sympathisches Jugendfoto … Doch was hatte die Waffenlieferung an syrische Radikalislamisten mit Frau Merkels Nacktfoto aus ihrer Jugend zu tun?
Der Staatsanwalt erklärte es mir: »Die seriösen deutschen Zeitungen haben dieses Foto nicht publik gemacht.« Und? Das heißt? Dann brachte der Staatsanwalt das Verhör zu einem noch interessanteren Punkt: »Wenn Sie ein Nacktfoto von mir in die Hände bekämen, würden Sie es in der Zeitung abdrucken?« Das Bild des Staatsanwaltes in einem Nudistencamp tauchte kurz in meiner Vorstellung auf und verschwand sofort wieder. »Natürlich nicht«, sagte ich. »Wieso sollte ich?« Seine Gegenfrage: »Und wo ist die Grenze?« »Öffentliches Interesse«, sagte ich. »Ein Nacktfoto von Frau Merkel oder Ihnen zu veröffentlichen ist nicht von öffentlichem Interesse. Wenn aber der Staat in all seiner Nacktheit bei einem illegalen Geschäft ertappt wird, zögert ein Journalist nicht eine Sekunde und veröffentlicht es.«
Der Staatsanwalt schien nicht sehr überzeugt von dieser Erklärung. Sein Job war es, die Scham des Staates zu verdecken. Wer das Feigenblatt hob, würde als Verräter beschuldigt. Schließlich wurde ich ein paar Stunden später mit der Anklage, Staatsgeheimnisse verraten zu haben, ins Gefängnis geschickt. 
Frau Merkel wusste nicht einmal etwas von ihrer Rolle in meinem Verhör.

                         ***

Nachdem ich aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und nach Deutschland ins Exil ging, lernte ich sowohl Frau Merkel als auch die FKK-Kultur kennen. Um ehrlich zu sein hat mich die Nacktkultur beeindruckt. Vor allem weil sie dazu dient, uns von der Obsession zu befreien den »perfekten Körper« haben und makellos aussehen zu müssen. 
Gegen Kulturen, die Nacktheit als anstößig, exhibitionistisch oder pornografisch empfinden, ist die entsexualisierte Nacktheit wie die Fackel der Freiheit. 
Wo das Ankleiden so sehr kommerzialisiert wird, scheint das Entkleiden wie ein selbstbewusstes Aufbegehren gegen diese Kommerzialisierung. Es ist, als entledige man sich der Scham und gesellschaftlicher Zwänge. Als stelle man sich dagegen, Nacktheit mit Prostitution in Verbindung zu bringen und sie zur Handelsware verkommen zu lassen. Und das macht sie zu einem revolutionären Akt. Doch für Menschen wie uns, die solch absurde Verhöre durchgemacht haben, hat der Nudismus noch eine andere Bedeutung: Sich zu entkleiden bedeutet auch aufzubegehren gegen die Macht des Staates über unsere Körper und unsere Gedanken. Das mag ein weiterer Grund dafür sein, Nacktheit dermaßen zu unterdrücken. Es ist etwas anderes, wenn der Staat sein Feigenblatt verliert, als wenn es Adam und Eva tun. Wenn er seine Intimität verliert, kommt mehr zum Vorschein, als die bloße Scham. 
Ich habe die Scham des Staatsanwaltes, die er zu verbergen versuchte, in schicken Kleidern gesehen. Wäre er im Reinen mit seinem Körper, hätte er sich vielleicht nicht so sehr angestrengt, die Scham des Staates zu bedecken. 
Es kam mir teuer zu stehen, aber ich habe gesehen, was ich sehen musste  …

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