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Kiyaks Theater Kolumne, 12.11.2018

...Und so lernen wir, dass sich aus der Einführung eines Rechtes niemals automatisch eine gleichberechtigte Gesellschaft entwickelt. Das Wahlrecht für Frauen war ein Schritt auf dem Weg zu einer freien und gleichen Gesellschaft. Und dieses Ziel ist immer noch nicht erreicht. Und damit kommen wir zu heute.
 
Denn in dieser Gesellschaft leben erneut Millionen von Frauen (und Männern), die vom wichtigsten Element einer Demokratie, nämlich dem Wahlrecht, das gekoppelt an das Staatsbürgerschaftsrecht ist, ausgeschlossen sind.
 
Es gibt in Deutschland kein allgemeines Wahlrecht für Frauen. Millionen Menschen leben in diesem Land – manche von ihnen seit über einem halben Jahrhundert – die nicht wählen dürfen und deshalb keine gleichberechtigten Bürger sind. Mindestens die Hälfte davon sind Frauen.
 
Und das ist der Schönheitsfehler, nicht nur, wenn wir von 100 Jahren Frauenwahlrecht sprechen, sondern auch, wenn wir beispielsweise die Demokratie nach Gründung der Bundesrepublik als einen abgeschlossenen Prozess betrachten. Freiheit und Gleichheit in Deutschland sind im Grunde genommen ein Märchen. 100 Jahre Frauenwahlrecht sind und waren immer nur einer bestimmten Gruppe von Frauen vorbehalten. Wir können immer nur sagen, vor 100 Jahren wurde dieses Recht eingeführt und dann aufzählen, wer alles davon nicht profitierte.
 
In Zahlen sind das acht Millionen Menschen, die volljährig sind und kein Wahlrecht haben. Wie beispielsweise die ehemaligen Gastarbeiter aus der Türkei. So genannte Drittstaatsangehörige, die seit 60 Jahren hier leben. Sie werden sterben ohne einmal in Deutschland gewählt haben zu können.
 
Sie bekamen Kinder, die auch wieder Kinder bekamen, gründeten im Vergleich zu Deutschen überproportional häufig Unternehmen, schufen Arbeitsplätze, waren Gewerkschaftsmitglieder oder Frauenrechtlerinnen. Es sind die Eltern derjenigen, die für Deutschland Fußball spielen, Filme drehen, Preise bekommen. Ihre Eltern haben dieses Land mit aufgebaut und sind aufgrund ihrer Zugehörigkeit keine Staatsangehörige. Ich weiß nicht einmal, ob man sie Bürger nennen kann. Was sind Menschen, die in einer Demokratie leben, von ihr verwaltet werden, aber nicht wählen dürfen? Staatsangehörige zweiter Klasse ohne Pass? Mitbewohner?
 
An dieser Stelle schreien immer die ersten auf und brüllen einem hasserfüllt entgegen, „sollen sie halt Deutsche werden!“ Ich kann diesen Einwand nicht mehr hören. Denn die, von denen ich spreche, können nicht Deutsche werden. Die Rentner unter ihnen leben überproportional häufig in Armut. Denn sie waren einfache Arbeiter mit geringem Einkommen. Lebt man unter einer gewissen Einkommensgrenze, erfüllt man die Voraussetzungen nicht, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Wie immer, sind die Ärmsten unter ihnen die Frauen. Das ist nur eine von unendlich vielen Hürden, die nur dazu errichtet sind, dass sie nicht Deutsche werden können, damit sie kein Wahlrecht bekommen.
 
100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland kann man nur feiern, wenn man die Jüdinnen von damals vergisst. Und die Türkinnen heute. Die Marokkanerin, die Tunesierin, die Libanesin, die Palästinenserin, diejenigen Frauen, die ab 1960 in dieses Land kamen und stimmlos blieben.
 
Deshalb muss Gleichheit das oberste Ziel heißen. Nicht Gleichheit zwischen Frauen und Männern. Nicht Gleichheit nur zwischen einigen Bevölkerungsgruppen sondern zwischen allen Bevölkerungsgruppen.
 
Glauben Sie nicht auch, dass die Parteienarithmetik über die Jahrzehnte anders wäre, wenn 8 Millionen zusätzliche Wählerinnen und Wähler zur Abstimmung gebeten werden würden? Oder das vielleicht das ganze Land anders debattieren würde, wenn die, über die man permanent spricht und verhandelt, auch mitstimmen dürften?
 
Und so erlaube ich mir bereits heute schon, davon zu träumen, dass die Flüchtlingsfrauen in Deutschland bald auch das Wahlrecht erlangen und dass es nur ein einziges Mal in der Geschichte nicht so ist, dass wir die Benachteiligten und Marginalisierten allein lassen, sondern an ihrer Seite stehen, um mit ihnen gemeinsam dafür einzustehen, dass die parlamentarische Demokratie um ihre Stimmen ergänzt wird.
 
Gleichberechtigung, meine sehr verehrten Damen und Herren, bedeutet nicht nur geografisch am gleichen Ort zu leben, sondern auch politisch. Es kann das eine ohne das andere nicht geben. Wo es kein Wahlrecht für alle gibt, gibt es keine Freiheit.
Dieser Text ist eine Rede, die am 12. November 2018 im Gorki von der Theaterkolumnistin  Mely Kiyak im Rahmen der Veranstaltung „Gleichberechtigung kommt noch..“ gehalten wurde. Die ganze Rede: auf Foto klicken.

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Kommentare: 1
  • #1

    Antje (Mittwoch, 05 Dezember 2018 11:42)

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