Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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"Spektrum", Kl. Haus Theater Bremen

 

„Spektrum“ im Kleinen Haus des Theater Bremen - eine tolldreiste Tanztheaterproduktion fordert Publikum und Kritik heraus. Und die feiert richtig ab mit verbalen Kraftakten, die sich dann doch auf so etwas wie einen nominalen Superlativ einigen: ein Gesamtkunstwerk! Der Begriff, hier konkret durchaus zutreffend, sollte dann doch nicht ganz so inflationär verwendet werden wie in allen bisherigen Rezensionen.

 

Bei seiner zweiten Choreografie am Theater Bremen präsentiert der gebürtige Ungar Máté Mészáros zusammen mit den Tänzer*innen der hauseigenen Unusual Symptoms eine Performance, die sich in der Tat geläufiger Beschreibung und Kritik eigentlich weitgehend entzieht. Dagegen hat es die Fotodokumentation von Jörg Landsberg geradezu leicht mit Szenenbildern von umwerfender Schönheit. 

 

 

Und das hat durchaus mit dem Charakter dieses Stücks zu tun als, ja: Gesamtkunstwerk. Denn die Körper in Aktion lassen sich begrifflich nicht wirklich dingfest machen. Auch weil sie eingebunden sind in ein audiovisuelles Netz aus Geräusch- und Klangkulisse vom ungarischen Multi-Instrumentalisten und Drummer Áron Porteleki. Sowie auch aus der permanent wechselnden Licht- und Video-Projektion von Urbanscreen (für Bühne und Video verantwortlich: Till Botterweck und Ana Romão).

Solch Synästhesie verliert narrativen Sinn nicht allein durch die extrem marginale (akustisch schwer verständliche) Textpräsenz, die gerade dadurch schlicht ihre sonstige Abwesenheit betont. Sinn weicht jedoch auch dank  dauerhaft angesprochener Simultaneität der Sinne immer in Bewegung.

Was Ana Romão unterstreicht im Gespräch mit dem Dramaturgen Gregor Runge: „Für mich geht es weniger um Narrative, als vielmehr um eine emotionale und sich von den Sinnen ableitende Erfahrung.“ Und Runge selbst fasst das dann als eine „Dramaturgie der Sinne“, die die Intention von Máté Mészáros für diese Choreografie zu realisieren beabsichtigt, „einen Raum aus Licht zu bauen“. Und genau an diesem Punkt kommen Urbanscreen mit ihrem „Licht- und Schattenspiel“ (Mareike Bannasch) zum Zug, die normalerweise „mit Architektur oder Skulpturen arbeiten, die wir mittels Licht in die Illusion sich verändernder Strukturen verwandeln“, was sie berauschend schön entfalten – hier unten am Beispiel des Wiener Leopold-Museums.

 

 

Im Theaterraum, mit dem sie sich aus zahlreichen Erfahrungen bestens auskennen, funktioniert das anders, eben nicht aus der Außenansicht wie in urbanen Räumen, wo zwar auch Soundkulissen zum Einsatz und die synästhetischen Effekte ganz anders und nicht in dieser Ballung zur Entfaltung kommen wie im Kleinen Haus.

 

Dann das grandiose Finale der sechzigminütigen Show, das in der Erinnerung fast die Hälfte der Gesamtzeit besetzt, mit der atemberaubenden Tanzperformance von Andor Rusu, längst bekannt von anderen Soli wie zuletzt in „Coexist“. Im Projektionsgewitter der Lightshow von Urbanscreen mit unzähligen Geometrien und Mustern sowie unbändigen Nuancen in Grau. Und schließlich die ohrenbetörende Klang- und Druminstallation von Áron Porteleki, die von unten die ganze Publikumstribüne erbeben lässt.

Das macht nachdrücklich deutlich, wie der „Raum aus Licht“ zwar auf der wie eine Faltkarte aufgeklappten weißen Bühne punktuell zum perspektivischen Illusionsraum mutieren kann...

 

Aber auch so schnell verschwindet, wie er aufscheint, hier frappierend an die Malerei von Francis Bacon erinnernd. Denn es geht nicht um die Realisierung von Raumideen, sondern um gemeinsamen Erfahrungsraum aller Akteur*innen, die Zuschauenden natürlich inbegriffen – in einem allumfassenden Kunstwerk, das einem die Sprache verschlägt. Wobei der Titel „Spektrum“ eigentlich mehr als genug verspricht in seiner semantischen Vielzahl wie Auswahl, Vielfalt, Bandbreite, Fülle, Pracht, Prunk, Farbigkeit, Buntheit, Überfluss, Vielgestaltigkeit…

 

Fotografie: Jörg Landsberg

 

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