Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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Herrenhausen 3: Sun&Sea - Brecht am Leine-Strand

                                                              Video von der Biennale in Venedig 2019

 

Sun and Sea

Brecht am Leine-Strand

 

An ’nem schönen blauen Sonntag
Liegt ein toter Mann am Strand
Und ein Mensch geht um die Ecke
Den man Mackie Messer nennt

 

Ja, es ist ein wahres "fleshy tableau-vivant" (so die offizielle Pavillonpräsentation in Venedig 2019) am Sandstrand, eine Oper in zwei Dutzend Gesängen, ob als Solo, Duett oder Chor, in Dauerschleife mit unregelmäßigen Auftritten und Abgängen von knapp 20 Performer*innen und einem kläffenden Hündchen. Eine zunächst vielleicht verwirrende Strandszenerie, die sich beim genaueren Draufblick von oben entwirrt in der jeweilig konkreten Situation, die sich bald in ihrer Alltäglichkeit, in der Sonne, im Eincremen, dem Spielen der Jungs im Sand, beim Schach- oder Kartenspielen, dem Sandwich oder der Wasserflasche ins Banale abzudriften scheint.

 

Aber nein, denn dieses Personal, ob Jung oder Alt, Frau oder Mann, tut bei all diesen sommerlichen Strandverrichtungen auch noch etwas anderes: Es singt. Den Sonnencreme-Bossa-Nova, das Lied der vermögenden Mutter, die Arie der Sirene, das Beschwerdelied, die Kommentare des Philosophen, das Lied des Workaholic, den Chor der Urlauber, der manchmal seine antike ethische Funktion übernimmt. In diesen Gesängen wird verschiedentlich die nette Sommerstrandherrlichkeit ironisch gebrochen. 

Video in deutscher Sprache

 

Dazu noch eine Besonderheit bei unserem Besuch des Stücks, der nicht ins Jahr der Biennale in Venedig 2019 fiel, als die drei litauischen Künstlerinnen Rugilė Barzdžiukaitė, Lina Lapelytė und Vaiva Grainyté für ihr Werk den Goldenen Löwen im warmen italienischen Sommer empfingen. Und wir alle noch wussten, wie den Sommer verbringen. Nein, wir waren in Hannover anlässlich der Kunstfestspiele Herrenhausen, die Sun and Sea eingeladen hatten und dem Publikum in Deutschland, wie vorher schon das Dresdener Staatsschauspiel, diese bemerkenswerte Performance boten. Doch diesmal wegen Corona nicht im Mai, sondern im deutschen Oktober 2020, schon recht kühl und vor allem regnerisch. Da brauchte es eine potente Warmluftanlage und noch einzelne elektrische Heizstrahler, um die Sandstrandfiktion überhaupt realisieren zu können.

Dieser saisonbedingter Unterschied formuliert sich dann im Libretto von Vaiva Grainyté als ein grundlegender, nämlich der Klimakatastrophe mit konkreten Auswirkungen wie z.B. der Plastikvermüllung der Meere. Der Chor der Urlauber intoniert in diesem Kontext:

"Dieses Jahr ist das Meer so grün wie ein Wald: Eutrophierung/ Botanische Gärten fluoreszieren im Meer- das Wasser blüht/ Unsere Körper bedeckt ein glitschiger grüner Vlies/  Unsere Badeanzüge sind voller Algen, leeren Schneckenhäusern, aufgedunsenen Algen, Fischabfällen/ und Muscheln aller Art."

 

Und die Kommentare des Philosophen bringen´s dann so auf den Punkt, wem die Vorteile der Globalisierung in den Schoß fallen:

 

Video in deutscher Sprache

 

Zwischen dem ersten Blick auf diese Opern-Performance, der fast voyeuristisch die Strandszenerie nach irgendwie Sensationellem absucht, aber nichts dergleichen findet und fast dem Trick des Gewöhnlichen verfällt wegen der ästhetisch nicht immer brillanten Oberfläche oder wie das einer unserer Schwiegersöhne formulierte: "Bis auf unseren bunten Windschutz, erinnert es an den Strand in Polen". Doch es sind Libretto und ästhetische Qualität der Gesänge, die inhaltlich und klanglich das bewerkstelligen, was die Jury der Biennale in Venedig in ihrer Würdigung von Sun and Sea hervorhob für die "Aufführung einer Brecht-Oper" unter kreativer Nutzung der Ausstellungsbedingungen.

Oder wie das Rugilė Barzdžiukaitė, die Filmemacherin unter den drei Frauen formulierte:

 

"Das Werk sollte einen Zusammenhang zwischen dem Körper der Welt und dem Körper der Menschen aufbauen, da war der Klimawandel das logischste Thema, das auch mit der Sonne und dem Meer zusammenhängt und so zeigt, wo der Wandel eigentlich passiert."

 

 

Und ganz zum Schluss noch die Stimme einer Komparsin, die das venezianische Casting bestanden hat.

 

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