Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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Monica Calle

 

Mònica Calle, Ensaio para uma cartografia

 

Dreizehn Frauen in Alltagskleidung und mit Streichinstrumenten, großen und kleinen, betreten eher nebenbei den Bühnenraum. Eine entpuppt sich schnell als die Choreografin, die an diesem Abend in Herrenhausen trotz ihrer langen Erfahrung viel jünger erscheint wie diesmal ebenfalls das gesamte Ensemble. Bekannt sind sie in Deutschland auf großen Bühnen spätestens seit der letzten Ruhrtriennale.

Und da richtet sich Mònica Calle in ihrer portugiesischen Muttersprache gleich direkt mit einer kleinen Ansprache ans Publikum, ganz ungezwungen, mithilfe einer Dolmetscherin aus ihrer Compagnie, deren sprachlichen Versuche zwar schon eine Ahnung geben, was denn professionelles Dolmetschen sein könnte, auf jeden Fall aber die Kommunikation ermöglicht auch dank des Publikums, das die eine oder andere Vokabel mit Freuden suggeriert. Womit der Ensaio schon das erste Mal unmittelbar eingeführt ist, eben als Versuch oder Probe, so auf Deutsch. Was Mònica Calle da in wenigen Worten ausführt, lässt sich aus dem Programm-Flyer zu diesem Abend etwas ausführlicher zitieren. Wir erfahren da aus einem Interview mit ihr, dass dieser „Versuch einer Kartografie“ sie schon seit fünf Jahren beschäftigt, eine protokollarische Versuchsanordnung, die für das Individuum wie für die Frauengruppe verzeichnet, „wie wir im Laufe der Zeit weiterhin in unserer Gruppe zusammenarbeiten, leben und alt werden“ – ein großer Plan, der Kunst und Leben umschließt. Und damit Gedanken der deutschen Frühromantik aufnimmt und ins neue Jahrtausend einspeist.

Aus der Gruppe von zwanzig Frauen werde für jede Aufführung des Ensaio para uma cartografia ein anderes Team ausgewählt, was notwendigerweise die Performance verändert, nicht jedoch das Grundsätzliche: „Es geht darum, auf nicht-demagogische und nicht-erklärende Weise die Vielfalt entblößter weiblicher Körper zu zeigen, um die Existenz, die Menschlichkeit in Perspektive zu setzen.“

Dreizehn nackte Frauen machen sich also für geschlagene zwei Stunden auf, „keine von uns eine Tänzerin oder Musikerin“, Dinge zu üben, „die wir nicht können. Wir versuchen es, scheitern, fangen wieder von vorne an…“. Dabei ist der Bolero von Ravel „das Rückgrat der Aufführung“, über Boxen die Orchesterproben unter der Leitung eines etwas herrischen Dirigenten zu Zeiten, als nur „meine Herren“ das Orchester bestückten oder aber dieses Neutrum noch als reines Maskulinum galt.

Und nach etwa achtzehn Probeeinsätzen im ersten Teil, die die dreizehn Frauen in der Formation eines gleichschenkligen Vs vollführen in dem immer wiederkehrenden, sich steigernden Rhythmus des Bolero, wird, dem der schreibt, endlich klar: Diese Frauen machen sich hier nackt im doppelten und also auch im übertragenen Sinn. Sie geben sich in der Diktion von Mònica Calle einem Versuch, einer Probe hin, frühromantisch nach Schiller könnten wir auch sagen: einem Spiel mit all seinen Möglichkeiten. Sie zeigen sich doppelt nackt mit ihren Körpern und ihrer „Zerbrechlichkeit“ doch in einer solidarischen Gemeinschaft von Frauen und ihren Körper, die jeder einzelnen eine große Stärke zuwachsen lässt, so dass man den mitunter wackligen klassischen Spitzentanz-Versuchen schon liebevoll zuschaut. Im Bewusstsein, dass spätestens hier der Geist dieses Tanztheaters aufs Publikum überspringen könnte: Ja, dass sich  jede/r selbst einen Freiraum zum Ausleben eigner neuer Möglichkeiten sucht, um ein Spiel zu spielen jenseits von gesellschaftlichen Anforderungen der Effizienz und Perfektion. Räume, wo immer sie zu finden sind für sich selber und vielleicht mit anderen, um sich real und symbolisch nackt zu machen - sei's im FKK, in Liebe, Leben, Kunst und Kultur.

Jedenfalls jenseits von einem sich aufgeilenden Voyeurismus einiger zu alter Männer, die nicht mehr begreifen können, dass es sich hier nicht um eine Version diesmal allerdings nackter Cancan-Girls im Moulin Rouge dreht, sondern eher um ein Lehrstück à la Bert Brecht für Darstellende und Zuschauende.

Und dann gelingt es diesen dreizehn auch noch, in der dritten, diesmal absolut minimalistisch in geschlossener Reihe perfekt den ganzen Bolero von der Bühnenrückwand bis zur ersten Reihe des Publikums und bis zum orgastischen Höhepunkt der Musik durchzutanzen. Und den meisten gelingt dabei auf ihren Gesichtern, vielleicht nur für einen Moment, ein Lächeln und mindestens einer gar ein befreiendes Lachen. 

 

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