Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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Grafikdesign: Robert Wilson
Grafikdesign: Robert Wilson

 

Seit zwei Jahren schon steht die Doomsday-Uhr des Bulletin of the Atomic Scientists auf „einhundert Sekunden vor Zwölf“. Diesem Endzeit-Stenario hat sich Robert Wilson gewidmet in Einklang mit dem Wissenschaftler Stephen Hawking, der Dichterin Etel Adnan, dem Komponisten Philip Glass, der Choreographin Lucinda Childs und dem Team des Thalia-Theaters in Hamburg. Und präsentiert bestechend schöne Bilder von hohem Wiedererkennungswert, großartig eingefangen in den Fotografien von Lucie Jansch.

Sie spiegeln jahrzehntelange Bühnenerfahrung im Umgang mit Szenographie, Licht und Regie eines Theatermachers von der Statur Bob Wilsons, immer wieder inspiriert von neuen Quellen aus Literatur, Kunst und Wissenschaft. Wie diesmal vom Astrophysiker Stephen Hawking und der Poetin Etel Adnan. Beide eint eine unermüdliche Auseinandersetzung mit dem rätselhaften Ursprung des Universums, dessen „beste Freundin“ sich die Adnan einmal nennt und dessen wissenschaftlicher Ergründung sich Hawking mit seinen schwarzen verdampfenden Löchern unermüdlich anzunähern sucht. Dennoch das Enigma bleibt erst einmal wie auch fadenscheinige Beschwichtigungsversuche zur Verklärung des Unerklärlichen, was emphatisiert wird durch den Nachhall von Wilsons Stimme aus dem Off und Jens Harzers auf der Bühne „Is there a god?“ Was bleibt, ist Rhetorik nur.

 

Am poetisch nachhaltigsten kommt der Text dieser Inszenierung, die wir in einer ihrer Vor-Aufführungen, also zwei Tage vor der Uraufführung, erleben konnten, in Sätzen daher wie: „Das Quadrat ist die Leidenschaft des Kreises“. Und der stammt von der Dichterin und Malerin Etel Adnan, von der im Thalia-Theater außer ihrer Bühnen-Inspiration für Bob Wilson auch Bildwerke zu sehen sind, deren Leporellos besonders ansprechen.

Ein weiteres, besonders eindrücklich philosophisches Bild in dieser Inszenierung vor dem und über den Weltuntergang stammt von Walter Benjamin und seiner Reflexion angesichts von Paul Klees Angelus Novus, der zum Engel der Geschichte umgedeutet wird, dessen Blick zurück die historischen Katastrophen fokussiert und der

 

„wohl verweilen möchte, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her (und) treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ 

 

Allerdings wird auch die Schönheit von Benjamins Gedanken über des Engels Flug auf der Bühne des Thalia durch wiederholte Paraphrasierung keineswegs schöpferisch fortgeführt, sondern seine Dichte poetisch wie philosophisch eher ausgedünnt.

 

  Fotografie: Lucie Jansch

 

Dagegen bestechen, wirkungsvoll durchchoreographiert, Sprachgestus und Beleuchtung von Architektonik und Figuren, mal als Scherenschnitt oder auch als gleichsam aus den Körpern herausgeleuchtetes Antlitz wie von Barbara Nüsse oder Jens Harzer, dessen Gesicht zudem noch im trickreichen Licht-Schatten-Effekt zu verrutschen scheint, mit offenem Mund im stummen Schrei erstarrt. Ein visuelles Vergnügen, das nachhaltig vom musikalischen Minimalismus eines Philip Glass untermalt wird.

 

Mitunter stößt Wilson allerdings auch an die Grenzen seines reichen Repertoires. Das gilt sowohl für die die Strenge seines Regieregimes auflockernden Slapsticks, als auch für Maschinen ähnliche Bewegungsabläufe der Figuren wie für die Kostüme, was stark an seine letzte Inszenierung am Thalia mit Mary Said What She Said (2019) erinnert, der Soloschau mit Isabelle Huppert. Wie auch für die aktuelle Idee der Projektion einer Video-Animation mit einem blutverschmierten Eisbären, der einen Fisch verschlingt, was damals, auch im Loop, ein kleiner rennender Hund war.

Wenn dann auch noch auf Videos im Hintergrund apokalyptisch Feuer aufflammt und Wassermassen einher schwappen, kann man sich des Eindrucks nur schlecht erwehren, dass hier die Realität und ihre Darstellung in TV-News die Kunst mehr als eingeholt haben. Eine genialere Lösung würde sich hier vielleicht - wenn das nicht vermessen wäre - mit einem Zitat aus der poetisch-dramatischen Arbeit AGHDRA des Videokünstlers Arthur Jafa anbieten:

 

 

 Zum MAKING OF von H

 

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