Franca Cavagnoli
Milano, Milan, Mailand
"Meine Fotos in dieser Ausstellung stammen aus dem Jahr 2020 nach dem ersten Lockdown, nach fast zwei Monaten zuhause eingeschlossen, als ich mich wieder in der Stadt bewegen konnte. Da ging ich dann immer öfter in Richtung des neuen Viertels in der Viale della Liberazione, wo wenige Jahre zuvor die neuen Wolkenkratzer Mailands aus dem Boden geschossen waren. Und ich begann, sie zu fotografieren und auf Instagram zu posten. Ich reagierte auf einen Impuls, in meinem Gemüt, in meinem Innern geschah etwas. Ich sah sofort: Die Bilder waren oft windschief. Die Wolkenkratzer waren nicht nur verbogen oder zu einer Seite gekippt. Sie waren aus dem Lot, aus ihrer Bahn geworfen und - das wurde mir bald klar - entsprachen genau dem, was ich seit zwei Monaten in meinem Inneren gespürt hatte.
Alles begann an einem Märznachmittag, ein paar Wochen nach Beginn des Lockdown, während ich meine neue Übersetzung von 1984 für Feltrinelli überarbeitete, die Anfang 2021, siebzig Jahre nach Orwells Tod, veröffentlicht werden sollte.
Da hörte ich in der ohrenbetäubenden Stille draußen ein Quietschen und Scheppern von Metallketten, und ich sah sie: eine lange Schlange von Panzern. Ich habe sie gesehen, obwohl ich am Mac saß mit der Datei meiner Übersetzung vor mir auf dem Bildschirm. Ich stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus und sah, dass die Straße völlig leer war, wie schon seit zwei Wochen, Tag und Nacht. Nichts war zu sehen, aber ich hatte das Geräusch der Panzer deutlich im Ohr. Ich wartete noch etwas, und ich sah noch immer nichts. Das war die erste mutierte Wahrnehmung der Realität damals: eine akustische Halluzination, und danach hatte ich visuelle, olfaktorische oder taktile Halluzinationen, aber nie des Geschmacks.
Im Laufe dieser zwei Jahre hat sich diese tiefgreifenden Verzerrung von Sinneswahrnehmungen mehrmals manifestiert, auch jetzt noch, nur nicht mehr so häufig. Beim Fotografieren auf der Straße, die Fassade eines Hauses hier, ein Eingang dort oder eine Pflanze da - sehe ich meistens hinterher, dass das Bild irgendwo aus dem Lot ist. Und dieses Gefühl des Aus-der-Bahn-Geworfenseins wird zwischen und unter Hochhäusern stärker denn je, denn noch nie habe ich so tief die Drohung einer Gefahr verspürt wie in den zwei Jahren, die ich dort spazieren gehe. Vor allem unter Stefano Boeris Boschi Verticali fühle ich mich wie eine Zwergin unter diesen Ogern der "Vertikalen Wälder", und dann versagt fast mein Atem und ich muss mich manchmal auf eine Bank legen oder irgendwo auf den Rasen.
Mailand ist vielleicht die Großstadt Italiens, die am meisten unter der Pandemie gelitten hat. Die Wolkenkratzer, noch vor wenigen Jahren für mich ein Sinnbild der Renaissance dieser Metropole, sind es nun für meine damalige und auch heutige Malaise. Ein Gefühl von Krankheit, mehr als ein Unwohlsein, das vielleicht auf die Malaise der ganzen Menschheit und des gesamten Planeten übertragbar ist. Damit muss ich wohl zu leben lernen."
Mailand im März Franca Cavagnoli
Bosco Verticale (2014), Stefano Boeri
Von oben links nach oben rechts:
Torre Unicredit (2012), César Pelli / Torre Isozaki "Il Dritto" (2015) Arata Isozaki / Torre Gioia 22 (2021) Gregg Jones / Torre Libeskind "Il Curvo" (2021) Daniel Libeskind / Torre Unicredit (2012) César Pelli / Viale della Liberazione, Milano / Torre Diamante / "Diamantone" (2012) Lee Polisano / Grattacielo Pirelli / "Pirellone" (1960) Gio Ponti / Torre Gioia 22 (2021) Gregg Jones / Torre Unicredit (2012) César Pelli / Viale della Liberazione e grattacieli di Porta Nuova (Work in Progress 2022) / Torre Unicredit (2012) César Pelli
Franca Cavagnoli - Veröffentlichungen
- Romane: Una pioggia bruciante (Feltrinelli 2015), Luminusa (Frassinelli 2015), Non si è seri a 17 anni (Frassinelli 2007).
- Erzählungen: Mbaqanga (Feltrinelli 2013); Black (Feltrinelli 2014).
- Essay: La voce del testo (Feltrinelli 2012; Premio Lo straniero 2013).
- Herausgeberin/ Übersetzerin von William S.Burroughs, J.M. Coetzee, F.S. Fitzgerald, Nadine Gordimer, James Joyce, Toni Morrison, V.S.Naipaul und George Orwell.
- Schreibt für “il manifesto”, “Alias”und “L’indice dei libri del mese”.
www.francacavagnoli.com