Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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Dreimal auf der Bühne: Didier Eribon

Nun also in der Bremer Schwankhalle – mit einem ganz anderen Zugang natürlich als in Berlin und Köln. Leider nur viermal.

Auch für das Theater interessant, so beweist sich, ist der autobiografische Essay des Soziologieprofessors Didier Eribon, der nicht nur in Frankreich schon bei seinem Erscheinen (Retour à Reims, 2009) Bestsellerquoten erzielte, sondern auch in Deutschland in seiner sieben Jahre späteren Übersetzung von Tobias Haberkorn nun schon in der 18.Auflage. 

Es ist die hochbrisante Verquickung der Befreiung aus der Enge der homophoben Provinz einerseits sowie des proletarischen Milieus andererseits und die damit verbundene sexuelle und dann auch die Herkunftsscham. Solch „Ein-schränkung“ (Eribon) lässt sich entkommen gerade im neuen urbanen, akademischen Umfeld, doch wird man nicht so leicht aus dem Schuldgefühl entlassen, sich seiner sozialen Wurzeln zu schämen.

Die Rückkehr des verlorenen Sohnes allerdings erst nach Jahrzehnten sowie nach dem Tod des ungeliebten und dementen Vaters, dieser Fakt in der eigenen Lebensgeschichte inspiriert den Autor zu soziologischen Fragen nach dem Aufstieg des Rechtspopulismus gerade unter der arbeitenden Bevölkerung, die einst traditionell kommunistisch oder links wählte. Und nach Zusammenhängen, eventuell sogar kausalen, mit der neoliberalen Kehrtwende in den herrschenden Kreisen und unter der linken Intelligenz in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Diese Zusammenführung von höchst Persönlichem und Privatem und gesellschaftspolitischer Analyse ist hochaktuell und ist es wohl, was die Begeisterung der Leserschaft entfacht hat.

  

Leseprobe

 

Die Inszenierung an der Schaubühne von Thomas Ostermeier, letztes Jahr auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen, konnte auf eine großartige Nina Hoss in der Hauptrolle zurückgreifen und damit zugleich noch auf einen doppelten Verfremdungseffekt: Einmal eine Darstellerin anstelle des männlichen Autors und Erzählers Didier Eribon. Und dann verdoppelt die sich noch als Bühnenfigur mit eben der Biografie der Nina Hoss, deren Vater, Gewerkschafter, Kommunist und Gründungsmitglied der Grünen einige offensichtliche Affinitäten zu Eribons Geschichte aufweist! Ein großartiger Schachzug, der dann natürlich auch dank der Schauspielkunst der Protagonistin eine geradezu hyperrealistische Atmosphäre heraufbeschwor. Was den Theaterkritiker Joseph Pearson während einer Probe sich fragen lässt, ob die Dialoge so wirklich im Textbuch stehen oder eher den konkreten Reflexionen der Akteure – wie in einer Unterhaltung ganz außerhalb des Spiels – entspringen. 

 

 

Ganz anders, nämlich explizit theatralisch und damit in dem spezifischen Kontext nicht eigentlich verwunderlich, geht es am Schauspiel Köln unter der Regie von Thomas Jonigk zu mit seiner Bühnenadaption des Textes, aktuell noch im Spielplan. Sie ist weniger dokumentarisch angelegt und setzt vielmehr darauf, die inneren und äußeren Leiden des jungen DE an verschiedenen Stationen seines Lebens in drastischen, grellen, auch absurden Bildern zu erzählen. Das ist als Interpretation des nicht allein sachlich-analytischen Textes, dessen Melancholie durchaus auch Empathie bei der Lektüre auslöst, durchaus eine Bühnenmöglichkeit, die eine gebrochene, zerbrochene Hauptfigur suggeriert unter vollem Einsatz aller Theatermittel. 

 

 

Eine dritte semiotische Übersetzung des Textes von Eribon wurde und wird noch von Michael Rettig (Bühnenfassung, Regie und Klavier) vorgestellt zusammen mit drei Musikerkolleg*innen an Cello (Clovis Michon), Geige (Jin Kim) und Elektronik (Riccardo Castagnola) sowie einem Rezitator (Ralf Knapp).

Besonderes Gewicht wird in dieser 75minütigen Interpretation jenen Textpartien beigemessen, die sich mit biografischen und politischen Aspekten von Eribons Buch beschäftigen. Der Text wird da  

„gesprochen, geflüstert, geschrien“ (Programmzettel), von den fünf Akteur*innen einzeln oder chorisch akzentuiert. Mit besonderem Nachdruck werden per Videoeinspielungen aktuelle Bezüge zur deutschen Situation hergestellt. Besonders auch mit der Wutrede einer weiblichen Stimme wie hier auf dem Video-Clip Bildstörung:

 

 

Die darin angesprochenen Realitätspartikel machen natürlich betroffen, der aggressive ideologische Ton, mit dem das vorgetragen wird, ebenfalls sowie die Wahrscheinlichkeit, dass es sehr schwierig sein dürfte, mit einer solchen Person in einen Dialog auf Augenhöhe eintreten zu können. Zugleich wird an diesem Punkt Eribons Position durchaus frag-würdig, wenn Menschen mit diesen Ansichten, die sich von den herrschenden politischen und intellektuellen Klassen allein gelassen fühlen, nun rechtspopulistischen Strömungen nachgeben – in einer Art „politischer Notwehr“, so Didier Eribon. Ist das nun ein Erklärungsansatz oder Freispruch von Verantwortung?

 

Ästhetisch besonders wird die Performance von Rettig & Comp., der diese selbst ins Genre des „Musiktheaters“ einordnet, wenn die Texte musikalisch von Instrumenten und Elektronik gut ausgekleidet werden, aber auch gegen den Strich gebürstet. Wie, das lässt sich bei einem anderen Konzert in selbiger Besetzung am selbigen Ort aus dem Frühjahr hier verfolgen. Der Begleittext des Videos Dann gibt dazu auch die nötigen Stichworte, die so auch für den Abend zu Rückkehr nach Reims gelten könnten: 

„Auf den Spuren einer zeitgenössischen Romantik. Melodiös, lyrisch, neoklassisch – überwiegend kontemplativ mit gelegentlichen Ausbrüchen. Zwischen Minimalismus, Avantgarde und klassischer Kammermusik. Musik, die atmen lässt und die Zeit aufhebt.“

 

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