Mutterland, Kiew (2023)
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Gemälde von Nazanin Pouyandeh
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Giovanni Cerri, Corona-Chronik

 

Nur wenige Tage nach seiner am 20. Februar 2022 beendeten Ausstellung im kalifornischen San Francisco präsentiert Giovanni Cerri seine Arbeiten wieder im Netz bei KUNO, wo er bereits im Dezember 2013 unsere gemeinsame allererste Online-Einzelausstellung eröffnet hatte. Sein Thema damals, Mailänder  Stadtlandschaften, speziell der Peripherie, hat nun allerdings einen besonderen Akzent erhalten: Es ist immer noch die Großstadt, wo er geboren wurde, lebt und arbeitet, nun aber unter dem Eindruck der neuen weltweiten Jahrhundertseuche. Dazu hatte er schon im Spätherbst 2020 Zeichnungen in einer Schau im norditalienischen Camobbio (Provinz von Varese) ausgestellt, die er für die USA teilweise in Mischtechniken auf Leinwand und Holz übersetzte oder ex novo erschuf. 

 

Das auch ganz besonders, weil in der Gegenüberstellung der hier vorliegenden Corona-Chronik von Giovanni Cerri sowie der von Regina Zacharski, die vor drei Wochen eröffnet wurde, zum selben Gegenstand, zwei Kunstschaffende, eine Frau und ein Mann, der eine aus dem Süden und die andere aus dem Norden Europas aufeinander treffen und damit auch unterschiedliche Schaffensmodalitäten wie auch Produktionen im analogen sowie im virtuellem Raum.

 

Für diese Online-Ausstellung von Giovanni können wir also auf einen doppelten Fundus zurückgreifen, auf die Abbildungen und Texte der beiden Kataloge zu den beiden Ausstellungen in den letzten zwei Jahren. Hier im PDF-Format ebenfalls dem Publikum zugänglich.

Im Folgenden nun der Text des Interviews mit dem Künstler von Francesca Bellotta aus dem Katalog für die Ausstellung in San Francisco in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen. 

 

Katalog der Ausstellung In Camobbio (Varese)
Catalogo Comabbio def..pdf
Adobe Acrobat Dokument 4.3 MB

 

 

Giovanni Cerri 

im Gespräch mit Francesca Bellotta

  

F.B. Wie bist Du mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 umgegangen?

 

G.C. Ab Ende Februar beunruhigte mich der Gedanke, dass sich die Situation verschlimmern könnte. Anfangs hatte ich, wie viele andere auch, den Ernst der Lage unterschätzt. So blieb ich fast drei Monate lang zu Hause, ohne in mein Atelier zu gehen. Ich bin nur ein paar Mal außer Haus gegangen, um das Nötigste für meine Familie zu besorgen.

 

 

F.B. Was hat Dich bei der Pandemie besonders beeindruckt?

 

G.C. Die Leere und die Stille, die für Mailand so unwirklich waren. Ich habe mich praktisch in meinen Gemälden wiedergefunden, vor allem in denen aus der Serie Geisterstadt (2006-2009). Verlassene Straßen,  leere Spielplätze, die bedrohlich wirkende Abwesenheit, die das kleinste Geräusch hören lässt.

 

 

F.B. Wie ist die Idee zu Diario della pandemia (Pandemie-Chroniken) entstanden und welchen Stellenwert hat diese Serie von Zeichnungen?

 

G.C. Wie gesagt, da ich gezwungen war, zu Hause zu bleiben, dachte ich, Eindrücke, Gefühle, Notizen und Studien zum Thema zu zeichnen - mit dem Kuli auf Papier. Ausgehend von der Realität jener Tage wandte ich mich der Geschichte zu und suchte nach Texten, historischen Fotografien und Literatur, die vergleichbare Situationen behandelten wie z.B. im beeindruckenden historischen Essay Storia della colonna infame von Alessandro Manzoni, der vom tragischen Ende zweier Unschuldiger erzählt, die wegen angeblicher Verbreitung der Pest denunziert worden waren und schließlich nach einem haarsträubenden Prozess 1630 in Mailand grausam hingerichtet wurden. Die Angst vor der Pest war riesengroß damals ebenso wie die Zahl der Toten in Norditalien.

 

 

 

 

F.B. Warum dann der Titel für Deine Ausstellung danach in San Francisco Mailand in der Stunde des Wolfs, besteht da ein Zusammenhang mit dem Film von Ingmar Bergman?

 

G.C. Während des Lockdowns habe ich mir viele Filme angesehen, manche mehrmals. Und einer davon war der Film von Bergman Die Stunde des Wolfs aus dem Jahr 1968. Der Protagonist, ein Maler, rezitiert da an einer bestimmten Stelle einen Monolog, in dem er dieses Gefühl der Angst zu dieser Zeit zwischen Nacht und Morgengrauen zum Ausdruck bringt, die Angst vor Alpträumen und vor dem Tod vieler Menschen. Diese Worte machten mir klar, dass es keinen passenderen Titel für meine Serie von Arbeiten geben konnte. Dieser Monolog drückt all die bedrohlichen Gefühle jener Wochen aus, der schlaflosen Nächte, der Ängste, der Stille, die immer wieder von den Sirenen der Krankenwagen unterbrochen wurde.

 

 

F.B. Gab es im Vergleich mit den Zeichnungen einen anderen Zugang zu den Gemälden?

 

G.C. Für mich waren die Zeichnungen erst einmal nur eine Art Diario, ein Tagebuch, eine Skizze oder Studie. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sie auszustellen. Jedoch hatte sich Massimo Cassani dafür interessiert und sich dann für eine Ausstellung in der Casa di Lucio Fontana in Comabbio (Provinz von Varese) stark gemacht. Für mich waren es einfach schnell hingeworfene Notizen, eine Seite nach der anderen - am Ende wurde das ein wahrer Korpus von Arbeiten auf einhundertachtzehn Seiten. In den Gemälden habe ich dann versucht, dem diskursiv Fließen der Zeichnungen auf Papier eine feste Form zu verleihen. Malerei funktioniert ohnehin anders als Zeichnung, sie hat andere Bedürfnisse, ist plastischer, kompakter, strukturierter, aber natürlich immer auf Basis all der Notizen, Ideen und Gedanken, die ich zuvor gesammelt hatte.

 

 

 

 

F.B.: Diese Ausstellung nach Ieri e oggi (Gestern und heute, 2015) und Memoria e futuro (Erinnerung und Zukunft im Leonardo-Jahr 2019) ist die dritte, die Deiner Heimatstadt gewidmet ist. Bist Du noch an weiteren Ausstellungen dazu interessiert?

 

G.C. Nun, man könnte auch noch Lost World (2013/14) dazu nehmen. Doch mit diesen Ausstellungen jetzt, die sich in dieser spezifischen Weise, zu diesem historischen Zeitpunkt mit Mailand befassen, kommen wir zu einem Abschluss nach einem Zeitraum von sieben Jahren. Natürlich nehme ich weiterhin Aufträge zu diesem Thema an, aber ich brauche dazu keine weiteren Ausstellungen. Mailand, seine Peripherie mit der dortigen Industriearchäologie haben mich viele Jahre lang begleitet. Jetzt geht es zu neuen Ufern.

 

 

 

 

F.B. Dein Gemälde des Papstes zum Datum des Urbi ed Orbi am 27. März 2020, verstehst Du das auch als ein Zeichen der Hoffnung nicht nur für Gläubige, sondern auch für Laien?

 

G.C. Ja, natürlich. An etwas zu glauben, gilt nicht nur für Christen. Das kann ja viele Namen tragen: Wahrheit, Loyalität, Ehrlichkeit, Hoffnung auf eine bessere Welt, auf mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Und dieser Augenblick mit Papst Franziskus allein auf dem Petersplatz an jenem regnerischen, dunklen 27. März wird als nachhaltiges Bild in unserer Erinnerung weiterleben.

 

 

F.B. Du hast in diesen zwei jüngsten Serien einigen der berühmtesten Gemälde aus Mailänder Museen gehuldigt, wie zum Beispiel der Beweinung Christi von Mantegna in der Pinacoteca Brera. Keine Angst vor Vergleichen dabei?

 

G.C. Nein, meine Arbeit ist ja eine Hommage an die großen Meister in einem schwierigen Moment der Geschichte, in dieser schwierigen Zeit, die es so erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg gibt. Und ich habe dabei auch an diese Meisterwerke gedacht, die nun in den Museen sozusagen gefangen gehalten wurden und für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich sind. Auch sie waren isoliert, ohne die Möglichkeit eines Dialogs mit dem Publikum, gefangen in der Einsamkeit und Stille ihrer verlassenen Säle. Keine Chance, mit uns direkt zu kommunizieren.

 

 

F.B. Warum verweist Du auch auf das Werk Der vierte Stand von Pellizza da Volpeda im Museo del Novecento am Mailänder Domplatz?

 

G.C. Das energiegeladene Bild mit den auf die Betrachtenden zukommenden Massen des Vierten Stands schien mir das genaue Gegenteil von dem zu sein, was bei uns geschah. Nehmen wir diese Menschenmenge, die so dicht beieinander, Seite an Seite kompakt marschiert, als wäre sie ein einziger Körper. In jenen Monaten zwischen März und April lebten wir das komplette Gegenteil: Distanz, Abstand, maximale Kontaktbeschränkung, Ausgangsverbote...

 

 

F.B. Und dann sprechen wir vielleicht noch über Der Triumph des Todes, das Fresko von Giacomo Borlone De Buschis in Clusone (Bergamo)? Der Tod ist ja eigentlich ein ganz natürliches Ereignis, doch schon beim bloßen Sprechen darüber stößt man mindestens  auf Unbehagen - oder?

 

G.C.: Natürlich. Und dann konnte ich nach der Hommage an die Mailänder Meisterwerke nicht umhin, auf eines der besten künstlerischen Beispiele für den Triumph des Todes Bezug zu nehmen, das große, raumgreifende Fresko im Oratorium von Disciplini in Bergamo, dem Ort, der in jenen Wochen so stark betroffen war als Totenstadt. Wer erinnert sich nicht an die Bilder, die um die ganze Welt gingen, der mit Särgen beladenen Militärlaster, die durch die Straßen dieser Stadt rollten? Dieser Triumph des Todes, der tanzt wie im Fresko, wurde in unserer Zeit wieder hoch aktuell, in anderer Form. Seit Tausenden von Jahren hat er den Menschen Angst eingeflößt. Und noch heute gilt, technologischer Fortschritt rettet uns nicht vor dem Tod.

 

 

F.B. Dein Gemälde Bergamo Tace (Bergamo schweigt) ist dieser Stadt gewidmet als besonderem Schauplatz der Pandemie.

 

G.C. Ja, ein Bild dazu, das an das Drama dieser Stadt erinnert, war unvermeidlich. Also habe ich die Stadt aus der Ferne dargestellt, dunkel, in ihre stille Tragödie eingehüllt.

 

 

Katalog Ausstellung San Francisco
GiovanniCerri S. Frisco.pdf
Adobe Acrobat Dokument 1.9 MB

 

 

F.B. Welche Themen werden Dein Interesse finden, wenn das nächste Kapitel, die Ausstellung in San Francisco, abgeschlossen sein wird?

 

G.C. Nach wie vor interessiere ich mich für urbane Landschaften, die inspirieren mich immer noch wie  vor dreißig Jahren, als ich ja auch mit anderen Arbeiten beschäftigt war. Natürlich werde ich auch weiterhin meine Vergangenheit mit den industriellen Peripherien in allen Ehren halten, ebenso wie alles, was ich in und über Mailand gemacht habe. Spannend ist, dass das Ende dieses langen Kapitels meiner Ausstellungen gleichsam historischen Charakter annimmt wie in Camobbio und Frisco. 

In der Zukunft wird es Zeichen aus dieser Welt geben, die jetzt noch als überflüssig, überschüssig, als nebensächlich gelten, als irgendwie exotisch. In Wahrheit ist es aber doch das, was bleibt oder sich widersetzt. Covid ist hier einschneidend und hat ja auch das Ende meiner urbanen Phase markiert - zumindest insofern, wie ich das bisher gewohnt war. Meine Blick nun richtet sich auf die Natur und ihre Kraft, sich das zurückzuerobern, was wir ihr genommen haben. Ich werde mich dann der nicht domestizierten Natur zuwenden, dem Unkraut, das Lücken in den Asphalt reißt, und dem wilden Wein, der Mauern und Gebäude überwuchert, dem Blümchen, das in einer Ritze auf der Straße wächst, den Sträuchern in Einöden, wo sie  kleine Dschungel werden. Oder auch kleinen Gewässern, die kleine Welten bergen und Leben schaffen, selbst wenn sich davon erstmal nichts zeigt.

Ganz wie Fabrizio De André es meint: "dai diamanti non nasce niente, dal letame nascono i fior" (nichts blüht auf Diamanten, auf Mist jedoch selbst Blumen).

 

 

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