Mutterland, Kiew (2023)
Mutterland, Kiew (2023)
Gemälde von Nazanin Pouyandeh
Gemälde von Nazanin Pouyandeh


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ANTIGONE - Anthropolis V

 

 

 

FURIOS

 

Foto: © Thomas Aurin, 2023
Foto: © Thomas Aurin, 2023

 

FURIOS?

 

Ja, diese Lilith Stangenberg in der Gestalt der Antigone geriert sich in antikem Wahn als Furie. So nannten die Römer die matriarchalen Erinnyen der Griechen mit ihrem Totenkult, der in der Tragödie des Sophokles –  aktualisiert in der Version von Roland Schimmelpfennig – für diese Inszenierung den Schlusspunkt einer Zivilisation des Todes im Anthropozän auf dieser Hamburger Bühne  nach dem Thalia vor mehr als zehn Jahren  markiert. Und damit auch den letzten Akt der fünfteiligen Anthropolis-Serie von Intendantin und Regisseurin Karin Beier am Deutschen SchauSpielhaus Hamburg.

Kongenial auf den Begriff gebracht als Dystopie und Realität im Titel der Rezension des NDR: Antigone: Niederlage des Menschen – Triumph des Theaters .

 

Die Massen weißen Bühnenstaubs in den knapp neunzig Minuten der Uraufführung, die in der Ekstase der Protagonistin – dank der gut funktionierenden Abzugsanlage – nur bis ins vordere Parkett hinein dampfen, erfahren hier eine vielfältige semantische Zuschreibung.

Nicht nur wenn Staub aufgewirbelt wird wie bei Nachforschungen mitunter unerwünschter historischer oder nicht mal gar soweit zurückliegender Skandale – in Hamburg erinnert man sicher gut den Cum-Ex – und auch wenn dabei etwas bedenklich Weißes hängen bleiben sollte an all den schwarz gekleideten Darsteller:innen auf dieser Bühne.

 

Bei familiären und sonstigen Verstrickungen gerade in Politik und Gesellschaft bleibt ja auch immer etwas hängen. Heißt: Niemand ist da wirklich frei von Schuld. 

                         Produktionsfotos © Thomas Aurin, 2023
Produktionsfotos © Thomas Aurin, 2023

 

Niemand ist da wirklich frei von Schuld. 

 

Selbst nicht der vorn an der Rampe sich wortreich aus seiner Verantwortung windende Totenwächter bei den Überresten des im Kampf um die Herrschaft mit dem eigenen Bruder gefallenen Polineikos, dem als offiziellem Staatsfeind kein Grab in Theben sein darf. Und doch hat ihn seine Schwester zumindest symbolisch bestatten können trotz aller Bewachung. Und trotz des Verbots des machtgeilen Kreon (Ernst Stötzner), der sich als solcher zwar nicht gern zu erkennen gibt, vielleicht auch weil er nicht mehr ist als ein glücklicher Gewinner, dessen Neffen, die eigentlichen Anwärter auf die Macht, sich gerade deswegen zu Tode stritten. Eine gewinnende Aura kommt dem dann nicht zu, der statt Autorität pure Staatsräson vertritt – auch noch gegenüber seinem Sohn Haimon, dem Verlobten der Antigone und dem Verfechter der Volksmeinung. Behauptet der das nur oder ist er das wirklich?

 

Foto: © Thomas Aurin, 2023
Foto: © Thomas Aurin, 2023

 

Behauptet da einer das nur oder ist er das wirklich?

Eine der vielen Fragen und Widersprüche, die allen Figuren dieser Tragödie eingeschrieben sind und die Inszenierung bestimmen, wie es auch Lilith Spangenberg im Interview beschreibt:

„Wir versuchen, die Positionen von Antigone und Kreon, zwischen altem und neuem Recht, Frau und Mann, Jugend und Alter so ambivalent und komplex wie möglich herauszuarbeiten. Die Entscheidung, mit welcher Figur ich mitgehe, soll einem kompliziert gemacht werden.“

 

Und in der Tat das gilt selbst für die Protagonistin und ihren durchdringend schrillen furiosen Wahn, der in seiner Wirkung eher etwas über uns Zuschauende sagt. Und auch Kreon steht als eher ordnungsbornierte Figur nicht umstandslos in der Kritik, denn Ruhe, Sicherheit und Chaos gebären in jeder Gesellschaft Konflikte. Und ist Kreon, wenn er von Teresias (Michael Wittenborn) am Ende zur Umkehr bewegt werden kann, davon überzeugt? Wir erfahren es nicht, denn vorher wird es erst dunkel, dann hell im Saal. 

 

Produktionsfotos © Thomas Aurin, 2023
Produktionsfotos © Thomas Aurin, 2023

 

Des blinden Sehers Schlussworte rufen unsere Gegenwart ins Stück, so dass ihre Kriege in der Ukraine und in Nahost, die Natur- und Klimakatastrophen bildgewaltig vor den Augen des Publikums aufscheinen mögen. Das mag der einen mehr, dem anderen weniger als dramatische Didaxe und somit fast überflüssig vorkommen.

Keinesfalls allerdings das Bild, das vielleicht am stärksten beeindruckt, von dem leider keines der sonst so erstklassigen Bühnenfotos vorliegt und das hier nur anhand einer Kostprobe (s.o.) existiert:

Die tote Antigone kommt – von der die Sage weiß, eingemauert in ihrer Höhle und ihrem Suizid aus Furcht, Hungers zu sterben – als in sich zusammengekauerte Skulptur und zugleich als großartiger marmorweißer Akt auf ebenso weißem Podest wie ein museales Bildnis der griechischen Antike auf uns, als J’accuse in Stein.

 

Als Person, als Schauspielerin kann sie dann zusammen mit ihren sechs Kolleg:innen und dem gesamten Team der Aufführung den wohlverdienten Applaus empfangen.

 

 

 

 

 

Einen populären Überblick über die Serie der fünf Dramen gibt hier die Hamburger Morgenpost. Sie lassen sich einzeln ebenso verfolgen  wie auch die ganze Serie an ausgewählten Wochenenden im Bingewatching/ Marathon:

 

 

 

Mit gewohnter Aufmerksamkeit und kritischer Expertise begleitet nachtkritik.de online den gesamten Hamburger Antikenzyklus:

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