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KUNOtheater/oper

 

 

 

 

 

2023

Das Vermächtnis (The Inheritance) Teil 1 und Teil 2

Residenztheater (Bayerisches Staatsschauspiel)

von Matthew Lopez

aus dem Amerikanischen von Hannes Becker

frei nach dem Roman „Howards End“ von E.M. Forster

Regie und Bühne Philipp Stölzl

Deutschsprachige Erstaufführung 30. Januar 2022

 

Statement der Jury

Matthew Lopez’ zweiteiliges Bühnenepos „Das Vermächtnis“ tritt gewissermaßen das Erbe von Tony Kushners „Angels in America“ an: Kushners Aids-Drama seziert die Vereinigten Staaten in der Reagan-Ära – Lopez verlängert den Erzählbogen mit Vor- und Rückblenden nun bis zur Präsidentschaft Donald Trumps. In „Das Vermächtnis (The Inheritance)“ prallen Figuren aus unterschiedlichen Milieus und Generationen aufeinander, entfalten in pointierten Szenen ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama und Beziehungsdrama, das die New Yorker Gay Community porträtiert und soziale Bruchlinien aufzeigt. Regisseur Philipp Stölzl vertraut ganz auf die Erzählung und das erstklassige Ensemble des Residenztheaters. Der siebenstündige Bühnen-Marathon zeigt nicht zuletzt: Theater ist immer noch besser als Netflix.

 

 

Der Bus nach Dachau

Ein 21st Century Erinnerungsstück

Eine Produktion von Schauspielhaus Bochum und De Warme Winkel

Koproduzent Internationaal Theater Amsterdam

von De Warme Winkel und Ensemble

Konzept und Regie Vincent Rietveld, Ward Weemhoff (De Warme Winkel)

Uraufführung 5. November 2022 (Schauspielhaus Bochum)

 

Statement der Jury

Mit „Der Bus nach Dachau“ wagt sich das niederländische Kollektiv De Warme Winkel zusammen mit dem Bochumer Ensemble an ein riskantes Experiment: Vincent Rietveld und Ward Weemhoff wollen ein Drehbuch über eine Dachau-Reise auf den Spuren einst internierter niederländischer Widerstandskämpfer*innen auf die Bühne bringen, das Wards Vater 1993 geschrieben hat, aber damals im Schatten von „Schindlers Liste“ nicht verfilmt wurde. Über diesem Vorhaben weitet sich der Abend hin zu Fragen der Darstellbarkeit des Holocaust als singuläres Verbrechen in der Geschichte der Menschheit und radikalen Zivilisationsbruch, der (Un-)Möglichkeit seiner Fiktionalisierung und Formen der Erinnerung, wenn Zeitzeug*innen nicht mehr befragt werden können. De Warme Winkel und Ensemble erproben unterschiedlichste ästhetische Mittel, schrecken weder vor Snapchat noch Partizipation zurück und setzen ihr Publikum einem Wechselbad der Emotionen aus, das fortwährend Fragen und Widerspruch provoziert. Aber genau diese Art von Reibung verhindert, dass das Erinnern zum leeren Ritual wird.

 

 

Der Einzige und sein Eigentum

Deutsches Theater Berlin

Ein Stück Musiktheater von Sebastian Hartmann und PC Nackt nach Max Stirner

Regie und Bühne Sebastian Hartmann

Premiere 4. September 2022

 

Statement der Jury

Vor seinem Erscheinen 1844 wurde Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ erstmal verboten, denn damals Unerhörtes verkündete der Autor, dessen Werk Nietzsche und Marx beeinflussen sollte: Jeder sei sein Eigner; keine Autorität, keine Instanz stehe über ihm. Was einst sozialen Sprengstoff barg, scheint uns heute selbstverständlich, mitunter gar auf die Spitze getrieben. Regisseur und Bühnenbildner Sebastian Hartmann und Komponist PC Nackt haben aus dem fürs Theater sperrigen Stoff eine eigene Form des Musiktheaters destilliert, eine Revue voller seltsamer, schöner, düsterer Wendungen entlang eines sich permanent drehenden Spiralturms. Zu wuchtigen Klangflächen, stacheligen Sounds und tanzbaren Songs assoziieren Hartmann und das sechsköpfige Ensemble verschiedenste Ich-Deutungen und -Gefühle, tragen einen Roboter zu Grabe, verirren sich in einem 3D-animierten Bienenstock. Wie viel Ich brauchen wir, und wie einzigartig ist es? „Der Einzige und sein Eigentum“ meditiert mit überwältigendem Sog über diese Fragen und wirbt dabei als Gesamtkunstwerk unablässig für die Kooperation vieler Ichs.

 

 

Die Eingeborenen von Maria Blut

Burgtheater (Wien)

von Maria Lazar

Bühnenfassung von Lucia Bihler und Alexander Kerlin

Regie Lucia Bihler

Uraufführung 20. Januar 2023

 

Statement der Jury

Maria Lazars Roman „Die Eingeborenen von Maria Blut“, 1937 im dänischen Exil verfasst, ergründet luzid die Anfälligkeit der katholischen Provinz für den aufkeimenden Faschismus: Armut und Abstiegsängste befördern antisemitische Tendenzen und Erlöserfantasien. Der Dramaturg Alexander Kerlin und die Regisseurin Lucia Bihler legen eine pointierte Fassung des figurenreichen Romans vor, die wie angegossen zu Bihlers stilisierten Bilderwelten passt.

Der zweistündige Abend fächert sich in Miniaturdramen auf, getrennt durch kantige Blackouts. Das Ensemble hält, unterstützt vom Sounddesigner Jacob Suske, die Spannung; nie wird es gemütlich. Es entfaltet sich ein herausfordernder Theaterabend, die starke szenische Setzung unterläuft absichtsvoll jede stringente Narration. Die chorischen Passagen, das Spiel mit und ohne Masken werfen grelle Schlaglichter auf die unheilvolle Verquickung von Religiosität und Dorfleben. „Die Eingeborenen von Maria Blut“ nähert sich radikaler Literatur auf radikale Weise.

 

 

Ein Sommernachtstraum

Theater Basel

von William Shakespeare

Deutsch von Angela Schanelec in Zusammenarbeit mit Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens

in einer Fassung von Antú Romero Nunes und Ensemble

Regie Antú Romero Nunes

Premiere 17. Dezember 2022

 

Statement der Jury

Wenn „Ein Sommernachtstraum“ der Liebling aller Laientruppen ist – dann spielt ihn eben eine Laientruppe. Antú Romero Nunes verwandelt das Basler Ensemble in ein Kollegium von Lehrer*innen voller Schrullen und Eigenarten und lässt es zum Spielen los. Und wie sie spielen, mit welcher Lust, welchem Können! Aus dem verklemmten Geschichtslehrer wird Helena, aus dem Direktor und seiner Frau werden Oberon und Titania. Und aus der verschüchterten Ethiklehrerin wird erst der tattrige Egeus und dann ein Puck, der nicht nur Freude an der Verwirrung hat, sondern auch noch kleptomanisch veranlagt ist. Immer tiefer steigen die Lehrer*innen ein in das Spiel und werden immer mehr zu Profis, immer tiefer gehen sie in den Wald, in die Fantasie, in den Traum, ins Unterbewusste. Immer noch ein Vorhang hüllt sie ein, die sieben Schauspieler*innen und den Musiker – das Erwachen wird furchtbar werden. Dieser „Sommernachtstraum“ ist ein Theater, das sich selbst feiert, sich hinterfragt, sich über sich lustig macht. Großer Spaß!

 

 

Hamlet

Anhaltisches Theater Dessau

Tragödie von William Shakespeare

Fassung von Philipp Preuss unter Verwendung der Übersetzung von Marius von Mayenburg

Regie Philipp Preuss

Premiere 25. März 2022

 

Statement der Jury

Vielleicht muss man sich die Hölle als endloses Wandeln durch ein Spiegelkabinett vorstellen, das von allen Wänden immer nur das eigene Abbild zurückwirft. In Ramallah Sara Aubrechts atemberaubendem Bühnenbild für Philipp Preuss’ „Hamlet“-Inszenierung kommen zu den Spiegeln noch zahllose videobespielte Vorhänge und eine bis in die Tiefe der Dessauer Riesenbühne ragende Tafel hinzu. Um sie herum treiben die Beteiligten an der Tragödie ihr zombiehaftes Wesen, scheinbar ewig die Wunden kratzend, die der Königsmord geschlagen hat. Ein Purgatorium, in dem die Seelenzustände und mit ihnen die Texte nie bei der stückentsprechenden Figur bleiben wollen, in dem lauter Doppelgänger*innen irrlichtern und der Klassiker zur gespenstischen Alptraumlandschaft wird. Ein Entkommen aus diesem Bunker der Gekränkten, der sich im Frühjahr 2022 ganz von selbst bis nach Moskau zu verlängern schien, ist zu jedem Zeitpunkt ausgeschlossen.

 

 

Kinder der Sonne

Schauspielhaus Bochum

von Maxim Gorki

Deutsch von Ulrike Zemme

Regie Mateja Koležnik

Premiere 7. Oktober 2022

 

Statement der Jury

Zunächst wirkt Mateja Koležniks Inszenierung von Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ wie aus der Zeit gefallen. Raimund Orfeo Voigts hyperrealistisches Bühnenbild, in dem sich der Niedergang eines um sich selbst kreisenden Bürgertums in jedem Detail spiegelt, und das psychologisch genaue Spiel des bis in die kleinsten Rollen perfekt besetzten Ensembles schließen an Theatertraditionen an, die etwas aus der Mode gekommen sind. Dennoch hat Koležniks Herangehensweise nichts Museales an sich. Ihre Arbeit ist vielmehr hochaktuell. Der von Guy Clemens gespielte Wissenschaftler, dessen weltfremdes Gebaren Ausdruck eines vergifteten Privilegs ist, und all die anderen, die um ihn kreisen, entlarven sich als tragikomische Egozentriker*innen, die blind für alles sind, was um sie herum geschieht. So rückt Koležnik Gorkis Figuren ganz nah an uns und unsere von Krisen geplagte Wirklichkeit heran.

 

 

Nora

Münchner Kammerspiele

Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch, Ivna Žic

Deutsche Übersetzung Tobias Herzberg, Hinrich Schmidt-Henkel

Regie Felicitas Brucker

Uraufführung 7. Oktober 2022

 

Statement der Jury

„Was für ein Mensch wäre das, dessen Geschichte nur vom Aufgeben erzählt?“, fragt Katharina Bach – und kämpft immer weiter. Sie spielt die Bankdirektorengattin Nora Helmer als lodernde Gefühlsathletin und harpyenhafte Gothic-Queen mit ABBAs tiefergelegtem „S.O.S.“ auf den Lippen. Mit allen Mitteln sucht ihre Nora Auswege aus dem Korsett, das ihr als (Ehe-)Frau, Mutter und Inventar eines Hauses angelegt ist, das hier die zweite Hauptrolle spielt. Bühnenbildnerin Viva Schudt lässt es kopf- beziehungsweise dachunter stehen und zwingt das Ensemble zum Klettern, Strampeln, Straucheln. Statt Ibsens Text flächig zu überschreiben, haben die Autorinnen Sivan Ben Yishai, Ivna Žic und Gerhild Steinbuch ihn punktuell ergänzt, wobei über Ben Yishais Prolog gewitzt die Klassenfrage ins Stück hineindiffundiert. Felicitas Brucker ist ein Abend gelungen, der auf vielen Ebenen vom wirtschaftlichen und sozialen Überlebenskampf erzählt. Ein akustisch und visuell elektrisierender Trip, eine virtuose Gesellschafts-, Haus-und Seelenumstülpung.

 

 

 

Ophelia’s Got Talent

von Florentina Holzinger

Konzept und Regie Florentina Holzinger

Gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien sowie dem Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport

Uraufführung 15. September 2022 (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz)

 

Statement der Jury

Florentina Holzingers Superheldinnen sind zurück – noch mutiger, kämpferischer, tiefseetauglicher als zuvor. Moderiert von der glasäugigen Piratin „Captain Hook“, die wie der Rest der Frauschaft unten ohne auftritt, beginnt der Abend als Talentshow von Athletinnen mit unterschiedlichen Begabungen, die althergebrachte Körperbilder und Geschmacksnormen hinter sich lassen. Sie tragen ihre Narben mit Stolz und erfinden neue Formen der Anmut. Dabei steigern sich unablässig die Stunts: Vom Apnoetauchen in mehreren Wasserbecken bis zur Massenmasturbation auf einem schwebenden Helikopter, vom Sirenengesang bis zum Plastikmüllstrudel im Wasserbecken. Der rote Faden in Holzingers maximalistischer Meereswesenshow ist Shakespeares Ophelia, deren Gang ins Wasser hier jedoch zur Empowerment-Strategie umgedeutet wird: Die Akteurinnen erzählen und überschreiben ihre Traumata durch den selbstbestimmt-kontrollierten Flirt mit der Lebensgefahr. Vom Überlebensmodus zum Wahnsinnsspektakel.

 

 

Zwiegespräch

Burgtheater (Wien)

von Peter Handke

Regie Rieke Süßkow

Uraufführung 8. Dezember 2022

 

Statement der Jury

Peter Handkes „Zwiegespräch“ verzichtet weitestgehend auf Handlung und Figuren, umkreist vielmehr das Phänomen des Erzählens selbst. Regisseurin Rieke Süßkow bricht die Sprechakte auf, verteilt den Text einerseits auf die Burgtheater-Granden Hans Dieter Knebel, Branko Samarovski und Martin Schwab, die hier als bedauernswerte Bewohner eines Altenheims auftreten. Andererseits kommen die Nachwuchskräfte Maresi Riegner und Elisa Plüss als gnadenlose Pflegerinnen zum Zug. Zwei Generationen stehen einander gegenüber, das Machtgefälle zwischen Heimbewohner*innen und Pflegedienst ist anschaulich definiert: Mögen die alten weißen Männer plappern, so viel sie wollen – zu sagen haben sie rein gar nichts (mehr).

Der Generationenkonflikt ist in Handkes Vorlage zwar so nicht angelegt, macht aber szenisch viel her: Die Regisseurin legt mit dem albtraumhaften Seniorenheim und der herzlosen Routine im Umgang mit dem Sterben eine starke visuelle und narrative Setzung neben, unter und über die Textvorlage, ohne diese dabei zu beschädigen. Süßkow schärft an, spitzt zu. Ihr gelingt am Akademietheater mit „Zwiegespräch“ ein schaurig-schöner Totentanz.

 

 

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